Es ist leicht, über 100 Punkte zu schreiben. Drei Ziffern, die wie ein Stempel klingen. Fertig. Abgehakt. Aber genau deshalb schreibe ich diesen Text nicht wegen der drei frischen 100-Parker-Punkte für Kracher. Ich gönne sie jedem Winzer, sie sind eine Bestätigung, sicher – aber sie sagen letztlich nichts darüber aus, was ein Wein mit dir macht, wenn du ihn im Glas hast. Und diese drei TBAs haben etwas mit mir gemacht. Gewaltig sogar.

Max Kaindl, 17. November 2025
Lesezeit etwa 4 Minuten

Kracher 100 – wenn Punkte plötzlich unwichtig werden

Zu Besuch beim Süßwein-Meister vom Neusiedlersee

Ich war vor wenigen Tagen bei den Kracher Wine Days in Illmitz. Zwei Tage im Seewinkel zwischen Menschen, die Süßwein nicht einfach herstellen, sondern leben. Und mittendrin Gerhard Kracher – ein Winzer, der die Tradition seines Vaters achtet, aber längst seinen ganz eigenen Stil prägt. Kracher ist heute kein Museum für große Süßweine vergangener Tage, sondern ein Labor, das permanent daran arbeitet, die Grenzen dieses Stils neu zu definieren.

Umso beeindruckender war die seltene Gelegenheit, drei nahezu mythische Weine aus der Schatzkammer zu verkosten: Chardonnay TBA No. 3 Nouvelle Vague 2000, Grande Cuvée TBA No. 7 Nouvelle Vague 2005 und Scheurebe TBA No. 9 Zwischen den Seen 2005 – die drei Weine, die nun jeweils 100 Punkte bekommen haben. Ein Hattrick. Aber ich sag’s direkt: Punkte erklären nicht, was hier passiert.

Nouvelle Vague oder Zwischen den Seen – kurz erklärt

Kracher baut seine Weine bewusst in zwei Welten aus.

Zwischen den Seen ist der klassische Stil: Edelstahl oder großes Holz, klare Frucht, glasklare Säure, pure Sortentypizität.

Nouvelle Vague ist die moderne Variante: Ausbau im Barrique, mehr Struktur, mehr Schmelz, ein Hauch Sauternes-DNA – aber immer mit dem Kracher-Faktor Frische.

Beide Linien leben vom selben Anspruch, gehen aber völlig unterschiedliche Wege.

Das Weingut – ein Ort, der Süßwein atmet

Kracher ist kein gewöhnliches Weingut. Es ist ein Brennglas. Ein Ort, an dem Klima, Mut, Geschichte und ein fast radikaler Qualitätsanspruch seit drei Generationen miteinander verschmelzen. Der Seewinkel am Neusiedlersee bietet dafür die perfekte Bühne: warme Tage, kühle Nächte, feuchte Morgen – ein natürlicher Botrytis-Motor. Alois Kracher Senior hat dieses Potenzial erkannt, sein Sohn Luis hat daraus Weltklasse gemacht. Und heute führt Gerhard dieses Vermächtnis weiter, ohne stehen zu bleiben. Er bringt internationale Einflüsse ein, denkt Süßwein nicht als Tradition, sondern als Zukunftsversprechen.

Was Kracher besonders macht, ist dieser seltene Mix aus handwerklicher Präzision, technischer Klarheit und einer fast künstlerischen Vision. Hier geht es nicht um Zucker und Reifegrade, sondern um Architektur – um das Bändigen von Opulenz, das Herausarbeiten von Spannung und das Konservieren von Energie über Jahrzehnte hinweg. Kracher ist das Epizentrum des österreichischen Süßweins – und gleichzeitig einer der spannendsten Orte für Weine, die das Potenzial haben, länger zu leben als wir selbst.

Meine Tasting Notizen

TBA No. 3 Chardonnay Nouvelle Vague 2000

Dieser Wein ist ein Zeitkapsel-Moment. 25 Jahre gereift und trotzdem lebendig wie am ersten Tag.

Die Nase: ein klassisches Alois-Kracher-Signature-Botrytis-Bouquet – klar, salzig, rauchig, feine Holzwürze. Akazienhonig, gelbe Pflaume, helles Karamell, Tabakblatt, Litschi, ein Hauch Maracuja.

Am Gaumen: cremig, buttrig, aber mit Zug. Keine Süßattacke, sondern ein präziser Strom aus Frische, Salz, Zitrus. Crème Brûlée, Salzmandel, Vanille, Kakao. Ein Wein, der verführt, ohne sich aufzudrängen.

Meine Erkenntnis: Das ist Chardonnay als Essenz. Ein Süßwein, der jegliche Kategorie sprengt. Reif, tief und gleichzeitig unfassbar zugänglich. Wenn man wissen will, was Alois Kracher konnte – hier ist die Antwort.

TBA No. 7 Grande Cuvée Nouvelle Vague 2005

Dieser Wein ist ein Monument. Einer der letzten Jahrgänge, an dem alle drei Generationen Kracher gemeinsam gearbeitet haben – und das spürt man.

Gold mit kupfernem Reflex, Nase voller Marille, kandierter Orange, Apfel, Honig, Nougat und dieser feinen salzigen Kante. Ein Hauch Gestein, der der Opulenz Struktur gibt.

Am Gaumen ist alles perfekt verwoben: cremig, aber fokussiert; dicht, aber nie schwer; energiegeladen mit präziser Säure. Pfirsich, Dörrobst, Zitrus, Röstnoten, salzige Mineralität.

Meine Erkenntnis: Das ist Balance als Religion. Die vielleicht kompletteste Süßwein-Cuvée, die Kracher je gemacht hat. Ein zeitloser TBA, der wirkt, als würde er die nächsten 50 Jahre nur schöner werden.

TBA No. 9 Scheurebe Zwischen den Seen 2005

Und dann die Scheurebe. In ihrer schönsten, präzisesten, kühlsten Form.

Die Nase: Mandarine, kandierte Limette, Grapefruit-Zeste, Minze, Eukalyptus, Blütenhonig, weißes Nougat. Dazu diese helle, muschelige Salzigkeit, die fast schon nordisch wirkt.

Am Gaumen: saftig, vibrierend, animierend. Reife Marille, Pfirsich, Maracuja, Zitrusfrische – alles glasklar und frei, weil der Wein nie Holz gesehen hat. Textur cremig, aber nie fett.

Meine Erkenntnis: Die Sorte ist eine Bank. Und sie ist unterschätzt. Wer diese TBA einmal probiert hat, fragt sich ernsthaft, warum die Scheurebe nicht eine der wichtigsten Süßweintrauben der Welt ist.

Was bleibt

Ich bin aus Illmitz weggefahren mit dem Gefühl, dass Süßwein eine der ehrlichsten Kategorien im Weinbau ist. Weil er Geduld braucht. Zeit. Vertrauen. Und weil jeder Fehler gnadenlos auffliegt.

Kracher gelingt es, diese filigrane Kunst nicht nur zu bewahren, sondern weiterzuentwickeln. Moderne Süßweine, die frisch bleiben, salzig, energiegeladen – und die zeigen, dass große Süßweine nicht altmodisch sind, sondern absolut zeitgemäß.

Parker kann seine 100 Punkte geben. Verdient sind sie. Aber diese Weine brauchen keine Zahlen. Sie erzählen ihre eigene Geschichte – wenn man ihnen zuhört.

Bilder: © The Art of Riesling – Maximilian Kaindl

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte füllen Sie dieses Feld aus.
Bitte gib eine gültige E-Mail-Adresse ein.
Sie müssen den Bedingungen zustimmen, um fortzufahren.