Es gibt Weingüter, bei denen man schon nach wenigen Minuten spürt: Hier wird nicht gearbeitet, hier wird gedacht. Artadi gehört zu dieser seltenen Sorte. Vielleicht liegt es an der klaren Luft von Laguardia, vielleicht an den kalkreichen Böden, vielleicht an der Ruhe von Ana Isabel Rodriguez, die mich an diesem Mittag empfängt. Oder daran, dass hier Dinge passieren, die so gar nicht in das gewohnte Rioja-Schema passen — und gerade deshalb so konsequent wirken.
Max Kaindl, 17. November 2025
Lesezeit etwa 5 Minuten
ARTADI – Wenn die Rioja sich neu erfindet.

Der Weinberg – Artadis wahres Kapital
Bevor überhaupt irgendein Fass, irgendeine Zukunft, irgendeine Stilistik eine Rolle spielt, steht man hier vor einer Wahrheit, die banal klingt, aber in der Rioja immer wieder ignoriert wurde: Der Wein wird im Weinberg gemacht. Punkt.
Artadi arbeitet heute weitestgehend biodynamisch — nicht aus Imagegründen, sondern aus Überzeugung. Buschreben, niedrige Erträge, manuelle Bodenbearbeitung, keine systemischen Herbizide oder Fungizide. Die Böden in der Rioja Alavesa sind kalkbetont, teilweise fast burgundisch, durchzogen von Ton, Sand, Sedimenten. Und Artadi legt offen: Sie wollen, dass diese Böden sprechen. Nicht das Holz. Nicht der Keller. Sondern der Boden.







Ana zeigt mir Parzelle um Parzelle
- El Pisón – ein Amphitheater, geschützt, windumspielt, mit alten Reben, die aussehen wie in die Erde gedrillt.
- El Carretil – steiniger, karger, vertikaler, fast schon intellektuell.
- La Hoya – dunkler, tiefgründiger, mit mehr Substanz und vulkanischer Ausstrahlung.
Zwischen den Reben spürt man den Unterschied sofort: Die Mikroklimata sind härter, kühler, später reifend. Was früher als Nachteil galt, ist heute der Jackpot: Spätreife = längere Vegetationszeit = mehr aromatische Komplexität bei weniger Alkohol.
Eine Region, die historisch für kraftvolle, warmfruchtige Tempranillos stand, bekommt durch diese Lagen plötzlich Kühle, Energie, vertikale Spannung. Genau das macht die 2022er so anders. So präzise. Aber mehr dazu später in meinen Verkostungsnotizen.
Die Arbeit im Weinberg – kein Dogma, sondern Konsequenz
Artadi erntet selektiv, Parzelle für Parzelle, Rebstock für Rebstock. Die Erträge sind winzig. Die Lese erfolgt ausschließlich von Hand. Jede Beere wird dreimal selektiert: im Weinberg, beim Einfahren und am Sortiertisch. Das klingt nach Marketingtext. Ist es aber nicht. Ich habe es gesehen.
Weniger Ertrag bedeutet nicht automatisch mehr Qualität. Aber kontrollierter Ertrag kombiniert mit gesunden, vitalen Reben liefert Trauben mit:
- dichterer Aromenstruktur
- reiferer, aber feinerer Phenolik
- höherer natürlicher Säure
- weniger Stress, dadurch weniger Bitterstoffen
Genau das schmeckt man in den 2022ern. Kein Druck, kein Alkoholwumms, keine Tanninkante. Stattdessen: Finesse, Textur, Linie.







Der Keller – Wo die Rioja kurz innehält und neu nachdenkt
Der eigentliche Stilwandel findet jedoch im Keller statt. Und dafür braucht es Mut. Viel Mut.
Denn Artadi hat etwas gemacht, was in der Rioja fast schon als Sakrileg gilt: Sie stellen Stockinger in den Keller.
Großes Holz aus Österreich. Spontan vergoren. Lange Mazeration, aber ohne Gewalt. Malo im Fass. Ausbau bis in das übernächste Frühjahr. Weniger Toasting, weniger aromatisches Holz, größere Volumina. Was das bewirkt?
Mehr Textur, weniger Aroma vom Holz
Stockinger-Fässer geben kaum Vanille, keine Kokosnote, kein süßes Toasting. Stattdessen entsteht etwas ganz anderes: Dichte ohne Breite. Struktur ohne Schwere. Es ist wie ein Rahmen, nicht wie ein Filter.
Weniger Reduktion, mehr Transparenz
Die natürlichen Mikrooxidationsprozesse größerer Fässer erlauben Tempranillo, sich zu strecken. Das Resultat:
- klarere Frucht
- feinere Tannine
- mehr Tiefe, weniger „Make-Up“
Parzellenidentität statt Barrique-Stilistik
Wenn das Holz schweigt, redet der Boden. Genau deshalb wirken Carretil, Hoya und Pisón heute charaktervoller und individueller denn je.
Warum die Weine heute anders schmecken
Was passiert, wenn man die Weinbergsarbeit präzisiert und das Holz neutralisiert? Genau das:
- Die Weine werden feiner. Strenger. Mineralischer. Vertikaler. Und ehrlicher.
- Es ist ein Stilwandel, der nicht jedem gefallen wird. Rioja-Fans, die nach dicker Frucht und süßer Würze suchen, werden irritiert sein. Gut so. Denn die Weine haben plötzlich wieder Kontur. Persönlichkeit. Und Energie.
Meine Tasting Notizen
Blanco Viñas de Gain 2020
Ein Weißwein, der eigentlich ein Rotwein sein will — zumindest am Gaumen. Reif, leicht wachsig, Akazienhonig, helle Blüten, viel Schale. Mild in der Säure, dafür griffig, phenolisch, lang. Der Wein trocknet fast leuchtend aus, als ob viura plötzlich beschlossen hätte, Charakter zu haben. Ein Statement.


Viñas de Gain 2022
Rote Kirsche in Perfektion — hochfein, saftig, tief. Kräuter, Luftigkeit, Finesse. Tannin zupackend, aber seidig. Ein Wein, der gleichzeitig einsteigt wie ein Charmeur und wieder rausgeht wie ein Gentleman. Die lebendige Säure trägt das alles wie ein Saiteninstrument. Klassischer Artadi-Einstieg, aber diesmal mit mehr Präzision.
La Hoya 2022
Dunkler, dichter, aber überraschend tänzelnd. Schwarze Frucht, Minze, florale Noten, ein Hauch Laub, extraktsüß, sehr elegant. Das Tannin ist präsent, eng verwoben, aber nie schwer. Ein Hauch Süßholz zum Start, Tiefe ohne Pathos. Ein Wein, der nicht brüllt, sondern hypnotisiert.


El Carretil 2022
Der leise Bruder von Hoya. Feiner, heller, vertikaler. Weniger Frucht, dafür mehr Linie, mehr Atem. Blumen, helle rote Frucht, vibrierend, extrem lang. Ein Wein, der nicht performt, sondern schwebt. Und mir genau deshalb nachdrücklich hängenbleibt.
Viña El Pisón 2022
Und dann Pisón. Ein Wein, der mich wirklich erwischt hat. Hellrote Frucht, enorme Präzision, monumental und gleichzeitig unfassbar fein. Kraft ohne Masse. Energie ohne Härte. Ein Zehnkämpfer, aber ästhetisch. Die Tannine sind präsent, aber poliert wie ein alter Flusskiesel. Die Säure setzt ein Ausrufezeichen und findet dann ihren angemessenen Platz in einer himmlischen Balance. Das ist Rioja in einer Form, die viele für unmöglich halten würden. Ich habe mich in diesen Wein verliebt.

Was dieser Tag mit mir gemacht hat
Es gibt Weinmomente, die einen neu sortieren. Artadi war so einer. Weil hier ein Weingut zeigt, wie modern die Rioja sein kann, wenn man ihr zuhört. Weil hier Mut nicht laut sein muss. Und weil hier ein Stil entsteht, der die Region nicht verrät, sondern weiterdenkt.
Artadi ist nicht Teil der Revolution. Artadi IST die Revolution. Nur eben auf leisen Sohlen.









