Ein Freitagnachmittag Anfang November. Siefersheim zeigt sich herbstlich: Nebelschwaden über sanften Porphyrhügeln, Sonnenstrahlen blitzen zögerlich durch die Wolken. Die ideale Szenerie für einen Besuch beim Weingut Wagner-Stempel. Oliver Müller, die rechte Hand von Daniel Wagner, hat mit mir einen Deep-Dive in den 2023er Jahrgang unternommen. Ein Jahrgang voller Extreme – und voller Chancen.
Max Kaindl, 29. Dezember 2024
Lesezeit etwa 5 Minuten
Wagner-Stempel 2023:
Extreme, Präzision, Charakter
Wagner-Stempel: Vulkanischer Ursprung, klare Vision
Das Weingut Wagner-Stempel steht für kompromisslose Qualität und einen unverkennbaren Stil. Das Weingut liegt in Siefersheim, einem Dorf an der Grenze zwischen Rheinhessen und der Nahe. Auch bekannt als rheinhessische Schweiz. Hier treffen zwei Welten aufeinander: die vulkanisch-geprägten Porphyrböden der Nahe und die kalkige Fülle Rheinhessens. Diese Dualität macht die Weine von Wagner-Stempel so einzigartig. Daniel Wagner übernahm das Weingut in den 1990er Jahren und formte es mit biologischem Weinbau und einer kompromisslosen Fokussierung auf die Weinlagen zu einem der Spitzenbetriebe Deutschlands.
Man kann nicht genug wertschätzen, wie wichtig die unermüdliche Arbeit von Daniel und seinen wenigen Wegbegleitern für das heutige Renommée rheinhessischer Weine war und immer noch ist.
Seine Lagen, wie der Höllberg und die Heerkretz, gehören heute zu den besten Deutschlands. Die Arbeit im Weinberg ist Handarbeit pur: von der Laubarbeit über die selektive Handlese bis zur Ertragsreduzierung. Der Kellerbau ist ebenso durchdacht. Mit großer Zurückhaltung setzt Wagner auf große Stückfässer aus deutscher Eiche, die den Fokus auf Mineralität und Puristik legen. Es ist genau dieser minimalistische Ansatz, der den Weinen ihren unverwechselbaren Charakter verleiht.
Der Witterungsverlauf 2023: Ein Jahr voller Extreme
Das Jahr 2023 war ein Paradebeispiel für die Herausforderungen des Klimawandels. Ein milder, regenreicher Winter sorgte für einen späten Austrieb im April, ein Segen für die Vitalität der Reben. Der Mai brachte plötzlich sommerliche Temperaturen, die das Wachstum explodieren ließen. Die Blüte verlief nahezu ideal, doch der Juni wurde von Trockenheit geprägt. Im Juli und August änderten sich die Bedingungen radikal: Örtliche Unwetter, starker Regen und Hagel bedrohten die Traubenreife. Siefersheim blieb glücklicherweise von den schlimmsten Extremen verschont, dennoch war die Ertragsreduzierung entscheidend.
Ab September schlug das Wetter erneut um. Ein rekordheißer und sonnenreicher Monat beschleunigte die Traubenreife. Die Leseteams mussten schnell reagieren, um von Fäulnis bedrohte Partien rechtzeitig einzuholen. Die Rieslinge hingegen profitierten von den stabilen Bedingungen im späten September und Oktober.
Der Jahrgang 2023 im Glas: Konzentration und Struktur
Riesling Gutswein, 2023
Frisch wie ein Herbstmorgen. Hell-gelbe Früchte und ein Hauch Zitrus in der Nase.
Am Gaumen saftig und lebendig, mit zupackender Säure, die das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt.
Ein Gutswein, der zeigt, was Siefersheim kann: Klarheit, Struktur, Trinkfluss.
Porphyr Riesling 2023
Die Nase kühl, fast spröde, mit feinster Würze und dezentem Fruchtspiel.
Am Gaumen vibrierend, mit rassiger Säure und einer tiefen, mineralischen Textur. Hier trifft Eleganz auf Substanz.
Ein Wein, der Zeit und Geduld einfordert – und sie reichlich belohnt.
Rotliegend Riesling, 2023
Der erste Eindruck: Eisen, nasses Gestein, zarte Würze.
Am Gaumen fast stahlig, mit messerscharfer Präzision und kerniger Säure.
Kein Schnickschnack, kein Weichzeichner – ein Riesling für Puristen, geradlinig und kompromisslos.
Rotliegend Riesling, 2018
Gereift und doch frisch. In der Nase rotbeerige Noten und eine dezente Würze.
Am Gaumen kompakt, mit ruppiger, aber gut eingebundener Phenolik. Typisch 2018, aber mit beeindruckender Frische.
Ein Wein, der zeigt, wie gut Rieslinge bei richtiger Handhabe auch in extremen Jahrgängen reifen kann.
Melaphyr Riesling, 2023
Feine weiße Blüten, ein Hauch Zitrus – ein leiser Auftakt.
Am Gaumen dann ein anderer Ton: zitrisch, rassig, mit stahliger Präzision.
Ein Wein, der fordert, packt und nicht mehr loslässt. Langstreckenpotenzial vom Feinsten.
Höllberg Riesling GG, 2023
Die Nase tief und komplex, mit würziger Mineralität und reifer Frucht.
Am Gaumen ein Spiel der Gegensätze: Schmelz trifft auf stahlig-nervige Struktur, reife Frucht auf rassige Säure.
Der Abgang? Lang, fest, beeindruckend.
Heerkretz Riesling GG, 2023
Steinig, salzig, fast elektrisch. Die Nase bringt Grapefruit und kühles Gestein, am Gaumen gibt’s Struktur und Grip. Vibrierend, fordernd, mit einem langen, salzigen Finish.
Ein Großer, der keiner Erklärung bedarf, einen aber sprachlos zurücklässt.
Scharlachberg Riesling GG, 2023
Gelbfruchtig, mit einem Hauch Kräuter.
Am Gaumen straff, herb, mit spürbarer Phenolik.
Noch nicht ganz in Balance, aber mit einem deutlichen Versprechen. Dennoch in meinen Augen der „Schwächste“ unter den drei GGs.
Sylvaner Reserve, 2023
Typisch Silvaner: Fenchel, Würze, Eleganz.
Am Gaumen cremig, kompakt, mit leicht rauchigem Akzent.
Ein dichter, straffer Wein, der Zeit braucht – und sie verdient.
Chardonnay Reserve, 2022
Dezent holzig, fein und charmant.
Am Gaumen saftig und frisch, mit grüner Frucht, cremigem Schmelz und straffer Säure.
Der salzige Abgang macht Lust auf mehr.
Ein Chardonnay, der Stil und Klasse zeigt.
Siefersheim: Spannungsfeld der Extreme
Siefersheim, westlicher Winkel Rheinhessens, verbindet Nahe-Mineralität mit rheinhessischer Fülle. Diese Spannung prägt die Weine: Sie sind karg und tief zugleich, puristisch und doch voller Ausdruck.
Die 2023er Weine von Wagner-Stempel sind kraftvoll, strukturiert und unglaublich präzise. Sie zeigen, dass selbst extreme Jahre großartige Ergebnisse liefern können. Selten hat mich ein Riesling-Jahrgang in seiner Breite und Tiefe so sehr überzeugt wie die 2023er Jahrgang von Wagner-Stempel. Wer diese Weine nicht probiert, verpasst ein Kapitel moderner deutscher Weinbaukunst.