„Warum braucht es eigentlich CHARTA-Weine?“ Diese Frage stellte sich mir unweigerlich, als ich Anfang November im Wein-Cabinet auf Weingut Robert Weil saß, umgeben von 40 Jahren flüssiger Rheingauer Weingeschichte. Wilhelm Weil eröffnete die Jubiläumsfeier mit einem Rückblick auf eine Vision, die deutsche Weine revolutionieren sollte. Aber was ist von dieser Vision geblieben? Und ist sie heute noch relevant?
Max Kaindl, 01. Dezember 2024
Lesezeit etwa 4 Minuten
40 Jahre Rheingauer Charta-Weine:
Eine Reise durch die Zeit – und die Zukunft?
Die Anfänge: Revolution im Weinberg
1984 war der deutsche Wein am Tiefpunkt – zumindest was das Ansehen betrifft. Billig, süß, massenkompatibel. Riesling war in den Köpfen vieler Weinliebhaber auf die “Pippi-Langstrumpf-Klientel” reduziert: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt – und zwar süß.“ Eine Gruppe von Visionären um Erwein Graf Matuschka-Greiffenclau, Hans Ambrosi und die Gebrüder Breuer hatte genug. Sie wollten einen Wein schaffen, der den Rheingauer Riesling in seiner (für damalige Begriffe) trockensten, pursten Form zelebriert. Unter ihrer führen erarbeitete eine Gruppe ambitionierter Winzer das Konzept eines herkunftsbezogenen Rheingauer Rieslings, der verpflichtenden Qualitätsstandards unterlag. Die CHARTA Vereinigung wurden geboren. Sie setzte mit ihrem Ansatz Maßstäbe für die „klassifizierte Herkunft“.
Charta-Wein unterliegt bis heute einfachen, aber strikten Qualitätskriterien: Ein balancierter, klassischer Rheingau-Riesling, der sich trocken zeigt und über ein hohes Reifepotential verfügt. Alle Charta-Weine stammten aus den besten Lagen des Rheingaus und müssen zu 100 Prozent aus vollreifen Rieslingtrauben gekeltert werden. Zur Qualitätssicherung werden die Weine in einer Blindverkostung bewertet und nur dann zugelassen, wenn die Charta-Typizität erkennbar ist. Die „kleinen Geschwister“ der Lagenweine dürfen frühestens am 1. September des auf die Ernte folgenden Jahres vermarktet werden.
Die braune Schlegelflasche mit den romanischen Doppelbögen auf der Kapsel. Ein Statement gegen die Beliebigkeit. Der Fokus lag auf Qualität, Herkunft und einem unverwechselbaren Profil. CHARTA-Weine waren die Blaupause für die heutigen „Großen Gewächse“ des VDP. Doch während die GG-Kategorie heute als das Nonplusultra gilt, scheint die CHARTA ins Abseits gedrängt worden zu sein.
CHARTA Weine aus vier Jahrzehnten
Vier Flights, jeder ein Jahrzehnt. Von 1983 bis 2019. Was mich dabei besonders faszinierte war die Langlebigkeit dieser Weine. Selbst ein 40 Jahre alter CHARTA-Riesling hatte noch diesen unverwechselbaren Biss – trocken, straff, mit einer Eleganz, die sich nur mit Zeit entfaltet. Doch das Besteck klapperte leise auf den Tellern, während wir diskutierten: Was ist aus der ursprünglichen Mission der CHARTA geworden?
Für manche Winzer, wie Johannes Eser vom Johannishof, bleibt der CHARTA-Riesling ein „Herzenswein“. Jedoch ist er weit mehr als das für ihn. Denn bis zu 15 Prozent seiner Jahresproduktion entfallen darauf. Doch bei vielen anderen scheint das Engagement eher lauwarm. Warum? Weil die Marke CHARTA in der Wahrnehmung vieler Konsumenten verblasst ist. Ein Nischenprodukt, das zwischen „Großem Gewächs“ und „Erstem Gewächs“ unterzugehen droht.
Ist die CHARTA noch zeitgemäß?
Die Wahrheit ist: Die CHARTA war einst ein revolutionärer Impuls. Doch die Welt hat sich weitergedreht. Die Fusion mit dem VDP im Jahr 1999 war ein logischer Schritt, aber sie hat der CHARTA auch ihre Eigenständigkeit genommen. Heute stehen gerade mal 13 Weingüter hinter dem Konzept – vor 40 Jahren waren es 50.
Und doch: CHARTA-Weine sind ein Stück Rheingauer Identität, ja sogar deutscher Identität. Sie erinnern uns daran, dass Qualität und Herkunft Zeit brauchen. Vielleicht ist es auch diese Geduld, die in unserer schnelllebigen Welt für viele Konsumenten schwer greifbar ist. Doch ohne diese Geduld, Hingabe und Überzeugung der Rheingauer Winzer vor 40 Jahren wäre die Wiederbelebung des deutschen Spitzenweins, wie sie seit den 2000ern zu sehen ist, wohl nicht in diesem Tempo gelungen.
Chancen für die Zukunft?
Was mich beeindruckt hat, war die Leidenschaft, mit der gerade junge Winzer wie Mark Barth über die CHARTA sprechen. Sie sehen darin keine nostalgische Erinnerung, sondern ein Potenzial. Barth sprach von der Chance, die CHARTA neu zu positionieren – als verlässlichen Begleiter für den Esstisch, als Wein mit Charakter und Substanz.
Aber das allein reicht nicht. Die CHARTA muss wieder sichtbar werden. Ein Wein ohne Geschichte bleibt nur eine Flasche auf dem Regal. Vielleicht ist es Zeit, die ursprüngliche Idee neu zu interpretieren – mutiger, lauter, zeitgemäßer. Für mich sind CHARTA-Weine – ähnlich wie für Barth – vielseitige Essensbegleiter, zugänglicher und oft harmonischer als die spannungsgeladenen Großen Gewächse. Eine klare, selbstbewusste Positionierung – sowohl in der Gastronomie als auch beim Endkunden – könnte der Marke neues Leben einhauchen und sie wieder ins Rampenlicht rücken.
Ein persönlicher Blick zurück – und nach vorn
Ich erinnere mich noch gut an zwei CHARTA-Weine von diesem Tag. Es war der 1983er Riesling von Robert Weil und der 2008er Riesling von Spreitzer. „Das ist Rheingau, wie er im Buche steht“, schrieb ich zu beiden Weinen in mein Notizbuch. Diese Klarheit, diese Präzision – genau das macht für mich den Reiz gereifter CHARTA Weine aus. Aber so etwas muss man erleben, nicht erklären.
Die 40-Jahr-Feier hat mir gezeigt, dass die CHARTA immer noch eine Bühne hat. Die Frage ist: Wer nutzt sie? Es liegt an den Winzern, aber auch an uns Konsumenten, ob wir bereit sind, uns auf diese Weine einzulassen. Vielleicht braucht die CHARTA weniger den Glanz der Vergangenheit und mehr den Mut zur Zukunft.
Denn eines steht fest: Große Weine entstehen nur dort, wo Leidenschaft, Vision und Durchhaltevermögen aufeinandertreffen. Die CHARTA hat all das. Jetzt muss sie nur wieder wachgeküsst werden.